Was Günther zu dieser Zeit ausweis
lich seines Tagebuchs am meisten störte,
war der Umstand, dass er aufgrund des
Offizierslehrgangs nicht an vorderster
Front stehen konnte. „Besonders gerne“,
so notierte er etwa am 7. Juli, „möchte ich
bei der Vergeltung mitmachen.“ Und als
er am 21. August vor der zweiten Phase
seiner Ausbildung stand, klagte er über
die nunmehr wieder vor ihm liegenden
„17 scheußlichen Wochen in Celle“. „Die
ses Leben in der Heimat kotzt mich an.
Ich möchte wieder heraus, am liebsten
zum Osten. Aber das ist ja gleich, nur in
den Kampf! Mit dabei sein dürfen!!“ Und
wieder schloss er den Eintrag mit einer
zuvor erlernten und von ihm seitdem
häufiger benutzten propagandistischen
Formel: „Wieder das Recht auf Leben ver
dienen!“
Gerade sein künftiges Leben, das heißt
die Richtung, die es in dieser Hinsicht
einzuschlagen galt, bereitete Günther in
den ersten Tagen des neuen Lehrgangs
aber offenbar erneut erhebliches Kopfzer
brechen. Seit einiger Zeit, so schrieb er
am 28. August, sei in ihm „der Drang zu
leben, leben! so groß“, was ihn in einen
Zwiespalt zwischen Kriegseinsatz und
Zukunftsplanung brachte. „Leben und
das Leben genießen! Geht’s bald wieder
raus? Hang und Gefühl drängen an die
Front, nur der Verstand sagt mir, dass es
hier besser ist. Und dann Mutter und Vater!
Auf sie muss ich Rücksicht nehmen.“
Dabei versuchte nicht nur die verständli
cherweise besorgte Mutter Elisabeth ihn
stets zur Vorsicht und Zurückhaltung zu
ermahnen, sondern auch Daueroptimist
Toni Roos sah die Dinge mittlerweile eher
düster. Es sei, so schrieb er seinem Sohn
einen Tag nach der Einnahme von Paris
durch die alliierten Truppen am 19. Au
gust, „ein Elend“. „Alles ist Scheiße“, der
Nachschub habe „vollständig versagt“,
der deutsche Fuhrpark sei „auf dem Hund“
und „wie sich die Sache entwickeln wird,
weiß man nicht“.
Günther saß derweil in Celle und grü
belte. Seine aktuelle Sicht der Dinge, so
versicherte er sich selbst, sei „keine Aus
reden-Selbstnarkose“, denn „warum sollte
ich mich hier selbst belügen?“. Ihm fehlte
bei seinen Erwägungen ganz offensicht
lich ein Gesprächspartner, der Vater Toni
nicht nur wegen seiner nunmehr ins
Schwanken gekommenen Weltsicht, son
dern auch aufgrund seiner insgesamt un
steten, auf den leichten eigenen Vorteil
bedachten Lebensweise längst nicht mehr
sein konnte: „Hätte ich einen Menschen,
der mich verstünde, mit dem ich mich
besprechen könnte! Wäre doch Gustav
da!!“ „Mich kotzt das Leben an“, äußerte
der 20-Jährige auf der Suche nach Orien
tierung und fuhr fort: „Mit mir selbst bin
ich uneins; weiß nicht wer und
was ich bin. Weiß noch nicht mal,
ob ich beim Militär bleiben soll
oder nicht. Eins steht fest, im
Einsatz, wo ich beweisen kann,
ob ich Offizier bin oder nicht,
werde ich mich entscheiden.“ Er
habe wohl die schlechte Ange
wohnheit, dass er zu viel nach
denke und grüblerisch sei. „Aber
muss ich mir nicht über mich
selbst Klarheit verschaffen? Ich
will leben, schaffen, Großes leisten,
und nicht vegetieren. Aber wie
soll ich dieses Ziel erreichen? Fra
gen, auf die ich nie eine Antwort
finde.“ Die Tagebucheinträge im
August 1944 zeigen Günther bei
234 /
„General Roos – 26.5.1943“:
Dieses Porträt von Günther fertigte
einer seiner Stubenkameraden
beim Lehrgang in Celle an – wohl
mit Blick auf dessen Auftreten und
Aufstiegsambitionen in der Uniform
eines Generals.
235 /
Am 22. August 1944 begann für
Günther Roos der zweite Teil seines
Fahnenjunkerlehrgangs in Celle.
Bescheinigung vom 31. August 1944
234
235
1944: „Der Endsieg ist greifbar nahe gerückt!!“
241
1944