Die ersten Wochen des Jahres 1944 erlebte Günther Roos im La
zarett im polnischen Żyrardów. Mit der Aussicht, dass ihm nach
einem solchen ersten Eingriff eventuell noch ein zweiter Zeh
amputiert werden musste, verbrachte er die Tage mit Lesen und
Nachdenken: „Alles kommt mir so unwirklich vor. Wenn ich so
über die Erlebnisse der letzten 1 ½ Jahre nachdenke, meine ich,
jeden Augenblick müsste ich erwachen und alles Traum sein.
Aber ich lebe doch und träume nicht.“ Eigentümlicherweise
überkam ihn beim Gedanken an eine Rückkehr nach Deutsch
land nun plötzlich ein „leises Grauen“, während er zugleich –
„so absurd es klingt“ – eine „Sehnsucht nach Russland“ entwi
ckelte: „Es gefiel mir dort, dieses Robinsonleben. War es nicht
das Leben überhaupt? Hier hieß es: Lebe oder sterbe! Einen
Kompromiss gab es nicht. Das Leben war Kampf
und für das Leben musste man kämpfen.“ Besonders
deutlich und eindrücklich stand ihm in diesem Zu
sammenhang wieder der 14. November des Vorjahres
vor Augen: „Hundertmal sah man dem Tod ent
gegen.“ Erst abends in der Baracke sei ihm die Situa
tion bewusst geworden – „dass ich lebe, und was es
heißt ‚Leben‘“. Er sei dem Tod entronnen und habe
sich das Leben „erkämpft“: „Ich war abermals geboren,
und dieses Mal bewusst. Das ist für mich Russland.“
Es war offenbar der pure persönliche Überlebens
kampf, der Günther zu dieser Zeit faszinierte; allein
auf sich gestellt und mit einfachsten Mitteln ums
nackte Leben kämpfen: „Ja, das ist ein Unterschied
zur Zivilisation, wo alles Tünche ist, wo der Mensch
in Watte und Liebe eingehüllt wird und vor dem
Kampf bewahrt wird. Hier entscheiden nicht das
Geld, nicht ‚Bildung‘, sondern die körperlichen und
geistigen Werte und Kräfte, das Können.“
Die folgenden Monate verbrachte er in relativer
Ruhe. Am 25. Januar wechselte er aus Żyrardów ins
Lazarett nach Rollshausen, wo er als einziger Offi
zier eine Sonderstellung einnahm. Ende Februar
schloss sich ein mehrwöchiger Urlaub in Brühl an,
nach dessen Ende er in die Kaserne nach Celle
zurückkehrte, um dort dann am 28. März einen
Fahnenjunkerlehrgang zu beginnen. Hier passierte
ausweislich des Tagebuchs nichts Außergewöhnliches. Günther
wurde zum wiederholten Male gefragt, ob er nicht doch aktiver
Offizier werden möchte, was er wiederum ablehnte und auf
seinen Berufswunsch Architekt verwies. „Es geht mir tadellos,
wenn auch viel Arbeit und Fliegeralarm ist“, lautete am 1. Mai
eine typische Passage in einem Brief an seine Mutter. Und als er
ihr zwei Wochen später zum Muttertag gratulierte, tat er das
eher knapp mit wenigen Worten: „Ja, und was soll ich sonst
noch alles schreiben? Es ist so schwer und die Phrasen der Zei
tungen möchte ich nicht abschreiben.“ Eine solche Phrase
bemühte er in einem anderen Brief dann aber doch: „Bisher
232
1944: „Der Endsieg ist greifbar nahe gerückt!!“
236