Tatenlos in Kemme
„Hurra! Die Parole ist Wahrheit geworden“, jubelte Günther
Roos am 5. September. „Was ich nie geglaubt, aber immer
gehofft habe, ist Tatsache geworden. Am Donnerstag geht’s weg.
Komme zur Ersatzeinheit.“ Hier würden die jungen Offiziere zu
nächst wohl als Ausbilder von Rekruten eingesetzt, mutmaßte er,
ging aber hoffnungsvoll davon aus, dass dem alsbald der direkte
Kriegseinsatz folgen würde: „Wo es an der Front so heiß hergeht,
wird man uns wohl dort brauchen.“ An der West
front, so Günthers unveränderte Einschätzung, sehe
es „beschissen, aber noch nicht hoffnungslos“ aus.
„Wir hoffen alle auf die neuen Waffen. Wann kom
men sie? Ich habe den festen Glauben, dass der Sieg
dennoch unser ist, und den Wunsch, bei der Ent
scheidung mit dabei sein zu dürfen!!!“
So weit war es aber längst noch nicht, denn zu
nächst wurde der vier Tage später mit Wirkung vom
1. August zum Leutnant beförderte Jungoffizier
nämlich nach Kemme bei Hildesheim versetzt, wo
alles andere als der Krieg das Leben bestimmte.
„Nun, hier ist es wahrhaft herrlich. Lebe wie ein Gott
in Frankreich“, berichtete er am 19. September. „Liegen
im Privatquartier beim Kreisbauernführer, ein sehr
nettes Haus. Essen herrlich, Arbeit keine, kurz, man
kann es aushalten. Werden wohl noch drei bis vier
Wochen hierbleiben.“
Mit seiner Unterkunft, so erinnerte sich Günther
Roos später, habe er „riesiges Glück“ gehabt. Der
Hausbesitzer sei der reichste Bauer des Ortes und zu
gleich Kreisbauernführer gewesen, dessen Bruder
Gustav Behrens sogar Stellvertreter des Reichsbau
ernführers und erster Träger des „Ritterkreuz zum
Kriegsverdienstkreuz“. Man habe in Kemme „ein
feudales Haus“ geführt, wobei nichts an den gleich
zeitig in seiner Endphase tobenden Krieg erinnert
habe. „Das Essen wurde mit aller Form eingenom
men. Das war zwar anstrengend, machte aber auch
Spaß. So hieß es vor jeder Mahlzeit Dienstuniform
aus und Ausgehuniform an.“ Samstags und sonntags
sei die Dame des Hauses zum Essen gar im Abend
kleid erschienen, und Donnerstag sei stets ein beson
derer Tag gewesen, weil der Gauleiter von Hannover-
Braunschweig und frühere Stabschef der Hitlerjugend Hartmann
Lauterbach zum Doppelkopfspielen ins Haus Behrens gekom
men sei.
„Es ist einfach herrlich. Ich fühle mich so sauwohl wie selten.
Wir werden hier richtig verwöhnt“, kommentierte Günther den
außergewöhnlichen und ungewohnten Luxus am 23. September.
Das Einzige, was ihn störte, war die von ihm als solche empfun
dene „Spießbürgerlichkeit“ der Gastgeber, die verhinderte, dass
er seine Zuneigung zu Helga, einer auf dem Gut beschäftigten
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1944: „Der Endsieg ist greifbar nahe gerückt!!“
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