in der Nähe liegende Karlsbad weitaus
stärker angezogen. Sein Desinteresse, er-
innerte sich Günther Roos, sei schließlich
so ausgeprägt gewesen, dass er an den
zum Staatsjugendtag erklärten und damit
für Jungvolkmitglieder unterrichtsfreien
Samstagen lieber zum Werkunterricht in
die Schule gegangen sei als zum „Dienst“.
Rheinlandbesetzung – „Ich sah
zum ersten Mal meinen Führer“
Die temporären Motivationsprobleme
hinsichtlich seines Jungvolkengagements
bedeuteten aber keineswegs, dass die wei-
terhin praktizierte, permanente Indok
trination ihre intendierte Wirkung bei
Günther verfehlt hätte. Im Gegenteil: Das
zwischenzeitlich geschwundene Interesse
sollte zu dem Zeitpunkt, an dem seine
Überweisung aus dem Jungvolk in die HJ
anstand, umso massiver zurückkehren.
Bis dahin, so resümierte er rückblickend,
habe „die intensive nationalsozialistische
Erziehung“, die er nicht zuletzt am Brüh-
ler Gymnasium erfahren habe, weiterhin
„eine große Rolle“ gespielt und entspre-
chend nachhaltig wirksam werden kön-
nen. Auch durch das zunehmende Le-
bensalter wurden dem Heranwachsenden
nun Ereignisse, die sich eigentlich fernab
seiner kindlichen Wahrnehmung abspiel-
ten, schrittweise verständlicher, zumal sie
vom gesamten gesellschaftlichen Umfeld
miterlebt, kommentiert und nicht selten
begeistert gefeiert wurden.
Während des in seiner Wahrnehmung
besonders ereignisreichen Jahres 1936 be-
gann der Elfjährige bezeichnenderweise
ein, zunächst sehr lückenhaftes, kleines
Tagebuch zu führen. Neben Informatio-
nen zum Wetter fanden hierin in kurzen
Einträgen auch jene Ereignisse Eingang,
die ihn besonders bewegten. Das galt vor
allem für den März des Jahres, der gleich
drei solcher Ereignisse bereithielt: „Sehr
warm, heiß, wolkenlos, Sonnenschein.
Militarisierung des Rheinlandes. Auf
lösung des Reichstages. Neuwahl am
29.03.36. Um 12 Uhr 34 betrat der erste Sol-
dat die Rheinprovinz. Bis 5–6 Uhr mar-
schierten die Soldaten durch die Straßen
von Köln.“ – So lautete der für diese Phase
seines
Tagebuchschreibens
außerge-
wöhnlich lange Text, den Günther am
Abend des 7. März 1936 in seinen kleinen
Taschenkalender eintrug.
Er erinnerte sich an diesen Tag auch
später noch genau und konnte entspre-
chend detailliert dessen Ereignisse und
Stimmungslagen schildern: „Damals war
ich Schüler auf dem Gymnasium in
Brühl. Es mag wohl so gegen 11 Uhr ge-
wesen sein, als der Hausmeister Roscheda
in die Klassen kam und uns zur Aula be-
orderte, wo wir eine Führerrede hören
sollten. So eine Führerrede war damals
für mich noch eine äußerst langweilige
Angelegenheit, die normalerweise ein bis
zwei Stunden dauerte, aber auf jeden Fall
besser war als Latein. So saß ich dann in
der Aula, träumte mit offenen Augen und
machte Pläne für den Nachmittag. Aus
diesen Träumen wurde ich jäh herausge-
rissen, als plötzlich das Lehrerkollegium
aufsprang und in laute „Heil“-Rufe aus-
brach. Es musste irgendetwas Besonderes
geschehen sein. Nach Beendigung der
Führerrede war dann noch eine kurze
Ansprache, in der von der Remilitarisie-
rung des Rheinlandes die Rede war, und
wir bekamen schulfrei. Fröhlich, dem
Schuljoch entronnen zu sein, lief ich nach
Hause. Hier traf ich meine Mutter mit
Tränen in den Augen vor dem Radio sit-
104
104/
HJ-Veranstaltung auf dem Brühler
Marktplatz für das nationalsozia-
listische Winterhilfswerk des
deutschen Volkes, um 1933/34.
Hinten rechts, halb verdeckt:
Gustav Roos
105/
Einmarsch deutscher Truppen
ins linksrheinische Köln am
7. März 1936. Im Hintergrund
der Dom
Prägungen
76