send fragte, was denn das Jungvolk sei,
erteilte ihr die Frau des Ortsgruppen
leiters umgehend eine Abfuhr: „Aber
Frau Roos, Sie wollen eine deutsche Mut-
ter sein und wissen nicht, was das Jung-
volk ist? Das ist doch die Jugendorganisa-
tion unseres Führers!“
Nachdem das geklärt war, begab sich
Elisabeth Roos auf die Suche nach Sohn
Günther und fand ihn tatsächlich als stol-
zes Mitglied im abendlichen Fackelzug:
„Und dann sah sie mich! Stolz, mit einer
Pechfackel in der Hand, marschierte ich
in meiner alten, dreckigen Spielkleidung
mit der SA durch die Stadt und schrie aus
voller Brust ‚Juda verrecke!‘ und sang mit
ihnen: ‚Soldaten, Kameraden, hängt die
Juden, stellt den Thälmann an die Wand!‘“
Zu diesem Zeitpunkt wusste Günther
Roos nach eigenem Bekunden nicht, was
er da eigentlich skandierte, aber der Acht-
jährige brüllte mit und fühlte sich dabei
in der großen Masse der siegestrunken
Feiernden sehr gut aufgehoben. Mit lau-
tem Protest habe er sich allen Versuchen
seiner Mutter, ihn aus der Marschkolonne
herauszuziehen, widersetzt und sei von
diesem Tag an eine Art „informel-
les“ Mitglied im Jungvolk gewesen.
Für die „Pimpfenprobe“
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und ins-
besondere das Tragen des heiß
begehrten HJ-Dolches sei er zwar
noch zu jung gewesen, habe fortan
aber – sicherlich mit Zustimmung
der Eltern – an den Heimnach-
mittagen und anderen Jungvolk-
unternehmungen teilgenommen.
Auch wenn er dabei in der ka-
tholisch orientierten Großfamilie
Roos vielleicht nicht überall auf
Zustimmung stieß, so gab es doch
immerhin großes Interesse an
seinen Aktivitäten, was den klei-
nen Günther in seinem Tun be-
stärkt haben dürfte. Seine Teil-
nahme am Marsch am „Tag von
Potsdam“, so erzählte er, sei am
nächsten Tag Thema innerfamiliä-
rer Gespräche gewesen: „Wie üb-
lich ging ich nach der Kirche zu meinem
Sonntagsbesuch zu Klugs auf der Uhl-
straße. Hier wurde dann das ganze Ge-
schehen noch einmal durchgesprochen.
Dann musste ich noch vorführen, wie
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Gruppenbild mit „englischen
Faschisten“ auf der Brühler
Schlossterrasse: Vater Roos in
der ersten Reihe (5. v. l.), links
oben auf der Brüstung Gustav
(3. v. l.) und Günther (2. v. l.)
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Vater Anton Roos mit seinen
Söhnen Gustav (vorn) und
Günther beim Besuch „engli-
scher Faschisten“ in Brühl, 1933
Prägungen
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