Bereits am 26. April wurde Günther Roos mit anderen Ge-
fangenen auf Viehwaggons verladen und in ein von der US-Armee betriebenes Gefangenenlager nach Attichy in Nord-
frankreich verlegt. Auf der Fahrt, insbesondere auf der Strecke
durch Belgien, so berichtete er später, habe ihn der Hass beein-
druckt, der den Gefangenen entgegengeschlagen sei: „Kaum
entdeckte man unseren Gefangenentransport, bildete sich auch
schon eine Menschenmenge, die uns die geballte Faust entge-
genstreckte und uns durch Gebärden zu verstehen gab, dass
man uns den Hals abschneiden oder uns aufhängen möchte.“
Weitaus tiefer traf Günther aber eine Information, die ihn am 2.
Mai erreichte: „Was mich heute zum Schreiben treibt, ist eine
Nachricht, die uns als nüchterne Meldung erreichte. Der Führer
ist tot! Adolf Hitler ist als Soldat im Kampf gegen den Bolsche-
wismus in Berlin gefallen.“ Und umgehend war das gesamte Pa-
thos wie auf Knopfdruck wieder aktiviert: „Ein Gigantenleben
hat sich erfüllt. Mit ihm ist Deutschland gefallen! Der Traum
vom Reich! Man kann es nicht fassen. Das Ende?“
Mit Zukunftsängsten vermischtes Pathos bestimmte auch in
den folgenden Tagen Günthers Stimmung. „Das gesamte Reichs-
gebiet vom Feind besetzt“, konstatierte er am 5. Mai,
dem Tag, an dem er registriert wurde und das erste
Lebenszeichen an seine Mutter schicken durfte. Er
könne „die Tragödie dieses Krieges noch immer nicht
begreifen“, schrieb er weiter. „Solch ein Ende hat das
deutsche Volk nicht verdient. Was ist geleistet und
geduldet worden! Und alles umsonst?“ Und der mit
der „Dolchstoßlegende“ vom im Felde unbesiegten
deutschen Heer des Ersten Weltkriegs aufgewachsene
junge Leutnant suchte nach entschuldigenden Er
klärungen für das Scheitern von NS-Regierung und
Wehrmacht, das ja auch sein eigenes war. Wenn er
nun sah, wie die Alliierten „aus dem Vollen“ schöp-
fen konnten, war ihm, der diese Überlegenheit schon
lange vorher hätte realisieren können, das nun Erklä-
rung genug: „Das Material hat uns niedergeknüp-
pelt.“ – Von Verantwortung und Einsicht keine Spur.
Und am Tag nach der deutschen Kapitulation er-
gänzte er am 9. Mai: „Was man seit Tagen mit Ban-
gen erwartete, es ist eingetreten. Gestern ist die
bedingungslose Kapitulation Deutschlands an die
Alliierten unterschrieben worden. Ich glaube, über
die Tragweite dieser Nachricht sind wir uns noch gar
nicht im Klaren. Deutschland hat zum zweiten Mal
verspielt. Sechs unendlich harte Jahre voller Not,
Arbeit und Tod scheinen abermals vergebens gewesen zu sein.
Waren es die letzten heroischen Zuckungen eines sterbenden
Volkes? Man kann es einfach nicht fassen!“ Die meisten würden
nur in dieser deutschen Niederlage „den Weg in die Freiheit“ er-
blicken, schloss Günther Roos diesen Eintrag. „Aber wie wird
einmal diese Freiheit aussehen?“
246 /
Erfassungskarte des Kriegs
gefangenen Günther Roos,
5. Mai 1945
246
1945: „Man muss schon fanatisch sein, und das bin ich ja, Gott sei Dank.“
263
1945