Seitens der Alliierten, aber auch der Gefangenen selbst wurde
umgehend viel dafür getan, dieses Tasten nach neuen Perspekti-
ven und modifiziertem Weltbild zu unterstützen. „Laufend stei-
gen im Lager Vorlesungen und Vorträge, von Philo-
sophie bis Englisch sämtliche Wissensgebiete“, hieß
es schon am 10. Mai im Tagebuch. Für Günther tat
sich ein erster schmaler Spalt in eine neue Welt auf:
„Es ist eine Erholung, all das anzuhören. Man ist ja
so wissenshungrig. Und ich bin mir der Notwendig-
keit zu lernen bewusst. Nur wer viel kann, dem ist in
Zukunft eine Verdienstmöglichkeit gegeben. Also:
Lernen, lernen! Täglich wird ein Stück aus ‚Faust‘ ge-
büffelt und Vorträge angehört.“ Dennoch blieb er zu-
nächst noch tief im über Jahre anerzogenen Denken
verhaftet. Als im Rahmen einer Feierstunde an
Pfingsten aus Johann Peter Hebbels 1811 zusammen-
gestellter Geschichtensammlung
Das Schatzkästlein
des rheinischen Hausfreunds
vorgelesen wurde, klas-
sifizierte Günther das Gehörte als „erlesene Werke
deutscher Kultur“: „Das war das ewige Deutschland!
Das Beständige. Es wird immer leben!!“
Als größtes Problem der Gefangenen kristallisier-
te sich nach der deutschen Kapitulation deren zu
sehends schlechter werdende Versorgung heraus.
„Hunger!“, lautete Günthers kurzer und vielsagender
Tagebucheintrag am 25. Mai. Die angebotene Gele
genheit, für Zusatznahrung zu arbeiten, lehnten die
vom Arbeitseinsatz befreiten Offiziere hingegen
rigoros ab. „Für die arbeiten wir nicht. Mal sehen,
wer das länger durchhält!“ Und auch sonst domi-
nierte weiterhin ein ausgeprägtes Feinddenken, das
jeder frühen Einsicht den Weg versperrte. Als im Lager
zur etwa gleichen Zeit beispielsweise Broschüren mit
Bildern aus dem Konzentrationslager Mauthausen
verteilt und die Gefangenen zur Stellungnahme auf-
gefordert wurden, war die Meinung eindeutig. „Wir
konnten nicht glauben, was dort berichtet wurde,
und taten dies als primitive Gräuelpropaganda ab.
Unser Kommentar: Geht einmal hier durch das Lager,
dann seht ihr genau die gleichen ausgehungerten
Gestalten!“, fasste Günther Roos die damalige Stim-
mung rückblickend zusammen.
Die nächsten, von dauerhaftem Hunger und dem Warten auf
die eigene Entlassung geprägten Wochen vergingen unspekta-
kulär. Günthers Situation verbesserte sich Anfang August zeit-
weise, als er wegen einer Stirnhöhlenvereiterung ins Lazarett
verlegt wurde und so das enge und heiße Mannschaftszelt zeit-
weise verlassen konnte. Hier, wenn auch bei weiterhin schlechter
Verpflegung doch immerhin stolzer Nutzer eines eigenen Betts,
fand er nach längerer Zeit am 10. August wieder einmal Muße
und Kraft zu einem längeren Tagebucheintrag:
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Vorder- und Rückseite der „Gefangenen
meldung für Kriegsgefangene“ von
Günther an Elisabeth Roos, 5. Mai 1945
1945: „Man muss schon fanatisch sein, und das bin ich ja, Gott sei Dank.“
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