Mensch, das Leben kann beginnen. Aber
wie?“
Tatsächlich verlief der Neustart für
Günther Roos eher holprig, denn zu-
nächst gelang es dem mittlerweile 21-Jähri-
gen nicht, sich als Zivilist ins ungewohn-
te und in mehrerlei Hinsicht harte Nach-
kriegsleben einzufinden. Immer wieder
schweiften seine Gedanken in jene Zeit
zurück, in der Deutschland – und damit
auch er – noch etwas gegolten hatte. Be-
sonders stark empfand er das, als er am
22. September zur Abholung zurück
gelassener Dinge nochmals nach Kemme
fuhr, wo er im Frühherbst 1944 stationiert
gewesen war und eine in seinen Augen
wunderbare Zeit verlebt hatte: „Genau
nach dem Verlauf eines Jahres traf ich in
dem alten Aufstellungsraum wieder ein.
Aber wie anders als damals! Damals ein
junger Leutnant voll Idealismus und
Tatendrang, heute ein armer Zivilist, An-
gehöriger eines besiegten Volkes.“ Das
zu akzeptieren, fiel Günther unendlich
schwer, ohne dass es ihm zu diesem Zeit-
punkt bereits möglich gewesen wäre, die
Verantwortlichen für die trostlose Nach-
kriegssituation zu erkennen und deutlich
zu benennen. Lieber dachte er an die in
seinen Augen offenbar noch immer gute
alte Zeit zurück: „Erinnerungen, Bilder
steigen immer wieder hier auf, an eine
schönere, bessere Zeit. So langsam geht
es aber auch dem Dümmsten und Ver-
stocktesten auf, dass der Tausch kein guter
war. Überall Unzufriedenheit und Furcht
vor der Zukunft. Die Gefahr des Bolsche-
wismus, die erdrückende Macht Russ-
lands im Osten engt jedem das Herz ein.
Was wird? Wie wird die Zeit, die da
kommt? Von den Rückwanderern aus
dem russischen Gebiet kommen die
schrecklichsten Gerüchte. Die Besatzung
muss sich toll aufführen, dazu kein
Geld und nichts zu essen. Armes, armes
Vaterland!“
Kaum aus Kemme zurück, erhielt
Günther eine Nachricht, die seine Stim-
mung noch stärker eintrübte und die eige-
ne Zukunft noch unsicherer erscheinen
ließ: „Eine tolle Neuigkeit: Das Notabitur
wird nicht anerkannt, und so wird der
Leutnant a. D. nochmals das Vergnügen
haben, die Schulbank zu drücken. Kom-
pletter Wahnsinn!“ Dem versuchte er zu-
nächst weiterhin mit kleinen Fluchten in
die Vergangenheit zu entgehen. So be-
suchte er frühere Kriegsschauplätze wie
am 18. Oktober etwa den Honsberg,
wo er im April des Jahres noch mit dem
„Eisernen Kreuz“ ausgezeichnet worden
war. Dort, so schrieb er, sei es „fast so
wie damals“ gewesen, nämlich „schön“ –
„wenn das Dazwischen nur ein böser
Traum gewesen wäre!“ Nicht das NS-Re-
gime und auch nicht den Krieg machte er
also als das Negative und für die gegen-
wärtige Situation Verantwortliche aus,
sondern den „bösen Traum“ der deut-
schen Niederlage. Als er in der Abend-
dämmerung die Gegend betrachtet habe,
so klagte er voll Wehmut, habe er ge-
glaubt, „es herrschte noch Krieg“: „Dass
Friede sei, konnte ich noch gar nicht fas-
sen. Krieg, Kampf, das war doch das Leben
überhaupt. Soldat, das war mein Beruf,
und ich glaube kaum, dass ich noch einmal
so glücklich sein kann wie damals.“
Als Günther zwei Wochen später
durch eine Bekannte an seine Zeit im
Herbst 1944 in Xanten erinnert wurde,
reagierte er ähnlich: „Wieder klopft die
Vergangenheit bei mir an. Schon ein volles
Jahr ist es her, als wir auf der Fahrt nach
Xanten waren. Voller Glaube, Hoffnung
und Lebensfreude war ich noch damals.
Wie viel schöner glänzt die Vergangen-
heit ins Heute. Ist es nicht eigentlich ein
Witz, dass ich mit meinen 21 Jahren
schon resigniert zurückschaue? Aber so
trostlos ist das Heute und grau sieht die
Zukunft aus.“ Damit meinte Günther seine
persönlichen Perspektiven, nicht etwa die
Unruhe und Unsicherheit, die das Schei-
tern der Konferenz der alliierten Außen-
minister in London Anfang Oktober 1945
hervorgerufen hatte, weil es das Ende der
Kooperation und den Beginn einer Kon-
frontation zwischen West und Ost andeu-
tete. Solche Entwicklungen nahm man
natürlich auch im kleinstädtischen Brühl
wahr, wo nach Auskunft des Tagebuchs
1945: „Man muss schon fanatisch sein, und das bin ich ja, Gott sei Dank.“
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