Schließlich stellte er bei dieser Gelegenheit auch alle ihm zur Ver-
fügung stehenden Unterlagen zur freien Verfügung, sodass für
die hier vorgelegte Darstellung auch Lebenserinnerungen seines
Vaters, Tagebucheinträge seines 1942 in Russland ums Leben ge-
kommenen Bruders Gustav sowie die gesamte erhaltene Familien
korrespondenz genutzt werden konnten.
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[
Û
1]
Die Inhalte
Diese ungewöhnlich breite Quellenbasis eröffnet
vielfältige und tiefe Einblicke in das Leben des her-
anwachsenden Günther Roos, wobei insbesondere
das ab Jahresbeginn 1939 intensiv geführte Tagebuch
eine detaillierte Chronologie seiner Persönlichkeits-
entwicklung liefert. Familie, Schule, Kirche, Alltag
und Freizeit: Die tägliche Auflistung der Tätigkeiten
und Ereignisse zeigt einen zunächst wohl „typischen“,
in eine große Familie eingebundenen Jugendlichen
mit wenig Lust auf Schule und großer Freude an
Spielen und Streichen. Zugleich erlauben die Auf-
zeichnungen interessante Aufschlüsse über den per-
sönlichen Medienkonsum und weisen Günther Roos
als begeisterten Leser, Radiohörer und Kinobesucher
aus – Aspekte, denen hier jeweils eigene Kapitel ge-
widmet werden.
¹⁴
Insbesondere lässt sich aus den Tagebüchern aber
dessen zunehmende und schließlich extreme Indoktrination able-
sen, die letztendlich in einem ausgeprägten Machtwillen mündete:
„Ein neues, starkes Volk wächst heran. Und ich bin dabei!“, heißt es
etwa im Oktober 1941. Adolf Hitler stieg in Günthers Augen spä-
testens ab 1940 zu einer Art Lichtgestalt auf, während der bis da-
hin prägende Einfluss der katholischen Kirche zusehends in den
Hintergrund gedrängt wurde, bis es Anfang 1942 schließlich zum
endgültigen Bruch mit ihr kam. Dabei ließ sich der extrem auf-
stiegsorientierte, in der Familie deshalb als „Kletteräffchen“ ver-
spottete 17-Jährige zur Verbesserung seiner Karrierechancen sogar
bereitwillig zum Ausspionieren und Denunzieren von Pfarrern
und Religionslehrern missbrauchen. Auf diese Weise hatte er es
bis zum Jungstammführer gebracht und damit den höchstmögli-
chen Jungvolk-Führerrang in Brühl erklommen, was er im April
1942 so machtbewusst wie martialisch im Tagebuch festhielt: „So,
jetzt habe ich das, was ich haben will, nämlich die Macht! Macht
will ich haben! Alle sollen mich lieben oder fürchten.“
Als Günther Roos Mitte 1942 Brühl und damit sein Elternhaus
verließ, um zunächst seine Zeit beim Reichsarbeitsdienst zu ab-
solvieren und anschließend in die Wehrmacht und aktiv in den
Krieg einzutreten, vollzogen sich erneut innere Wandlungen,
ohne dass seine Führergläubigkeit und die Lösung von der Kirche
dadurch infrage gestellt worden wären. Seine neue Position war
in einem zentralen Punkt jedoch eine gänzlich andere, denn aus
dem Befehlenden war ein Befehlsempfänger geworden. Zudem
nahm der Krieg alsbald eine entscheidende, negative Wende, und
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Die Tagebücher von Günther Roos,
die er zwischen 1936 und 1948
verfasst hat
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1 Die Selbstzeugnisse der Familie RoosEinleitung
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