gemäß nicht stellvertretend für die all jener
jungen Deutschen stehen, die Mitte der
1920er-Jahre geboren wurden. An seinem
Beispiel kann jedoch in oft erschreckender
Deutlichkeit und häufig bis ins Detail vor
Augen geführt werden, wie die Anreize,
die Hitlerjugend und NS-Regime entspre-
chend ambitionierten Heranwachsenden
zweifelsohne boten, einen jungen Men-
schen manipulieren und bis in seinen in-
nersten Kern hinein verändern konnten.
Möglich wird eine solche Darstellung
durch die außergewöhnliche Quellenüber-
lieferung unter anderem in Form von Tage-
büchern und Briefen, auf deren breitem
Fundament die Lebensgeschichte von
Günther Roos erarbeitet werden kann. Sie
setzt sich damit deutlich von vergleichbaren
Versuchen ab, die ausschließlich auf den
rückblickenden Aussagen von Zeitzeugen
beruhen. Ein Vorhaben, auf diese Weise
„die Hitler-Jugend als Sozialisationsraum“
darzustellen,
⁵
muss nahezu zwangsläufig
scheitern, weil solche Erinnerungen allein
„nur selten gängige Meinungen und häufig
gehörte Stereotypen über die NS-Zeit über-
schreiten“.
⁶
„Die Erzählungen sind oft weit
von Erfahrungen entfernt, zu sehr scheint
sich Geschichte wie ein eingefrorener
Klumpen aus Bildern und Redeweisen in
der Erzählung durchzusetzen.“
⁷
Damit
aber, so ist zu ergänzen, fehlt diesen Arbei-
ten nahezu alles, was die Entwicklung eines
Jugendlichen in einer spezifischen Lebens-
phase (be)greifbar und (er)fassbar machen
könnte. Stattdessen werden Verlautbarun-
gen von offizieller Seite vorschnell und un-
kritisch für bare Münze genommen und
zu realen Grundpfeilern jugendlicher Le-
benswelten transformiert. So wird dann
auf der Grundlage recht vager Erinnerun-
gen eines Zeitzeugen die Hitlerjugend zur
„totalitären Sozialisationsagentur“ und
damit zur nahezu perfekten Institution,
an der sich exemplarisch zeigen lasse, „wie
soziale Systeme Jugendliche zu kontrollie-
ren und zu manipulieren imstande sind“.
⁸
Dies zu analysieren und vor Augen zu
führen, ist tatsächlich von grundlegender
Bedeutung. Doch die Erkenntnisse, die aus
der Befragung von Zeitzeugen zu gewinnen
sind, können allein niemals ausreichen, um
das Ausmaß und die Art der Manipulation
von Jugendlichen durch ein totalitäres
Regime und das dazu genutzte Instrumen-
tarium zu ergründen und darzustellen.
Solch unerlässliche Forschung bedarf
vielmehr aussagekräftiger zeitgenössischer
Quellen und Selbstzeugnisse, die es dann
tatsächlich ermöglichen, sich nicht nur den
konkreten äußeren Gegebenheiten, son-
dern zugleich auch dem damaligen Denken
und Fühlen der Heranwachsenden anzu
nähern. Nachgerade ideal stellt sich die
Lage dann dar, wenn es neben solchen
schriftlichen und bildlichen zeitgenössi-
schen Aufzeichnungen auch noch reflek-
tierende Lebenserinnerungen sowie die
zusätzliche Möglichkeit gibt, den Zeit-
zeugen auf der Grundlage all dieses Mate-
rials selbst noch zu befragen.
Die Quellen
Im Fall von Günther Roos sind alle oben be-
schriebenen Kriterien für eine ideale Quel-
lenlage erfüllt.
⁹
Er wurde bereits in jungen
Jahren zu einem eifrigen Tagebuchschreiber.
Sobald er für längere Zeit das Elternhaus
verließ, hielt er zudem mit oft langen Brie-
fen Kontakt zu Vater, Mutter und Bruder,
die ihrerseits auch mit ihm und untereinan-
der korrespondierten. Ein großer Teil dieser
Dokumente überstand, noch ergänzt um
reichhaltiges Fotomaterial, Kriegs- und
Nachkriegszeit. Nachdem er sie jahrzehnte-
lang völlig unbeachtet gelassen hatte, „ent-
deckte“ Günther Roos sie mehr als 40 Jahre
nach Ende der NS-Zeit neu und begann, sich
intensiv mit seiner Familiengeschichte und
seiner eigenen Kindheit und Jugend ausein-
anderzusetzen. Der Anlass hierfür waren
wohl die Forschungen der Historikerin Bar-
bara Becker-Jákli, die in der zweiten Hälfte
der 1980er-Jahre im Vorfeld des 50. Jahres-
tages des Pogroms vom 9. November 1938
nicht nur die damaligen Geschehnisse in
Brühl aufarbeitete, sondern sich zugleich
auch intensiv mit Geschichte und Schick-
sal der in der Stadt lebenden Juden ausein-
andersetzte. Hierbei war sie auf die Mitar-
beit von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen an-
gewiesen, unter ihnen auch Günther Roos.
Einleitung
8