Eine neue Welt
Trotz aller Widrigkeiten legte Günther Roos sein Abitur ab.
„Bestanden! Die Prüfung war ziemlich harmlos“, lautete am
21. Mai sein knapper Kommentar hierzu. Mit diesem Ereignis
setzte dann aber offenbar ein stetiger Wandel seiner Einstellung
ein, der sich aus verschiedenen Quellen speiste. Zunächst aber
hatte Günther damit zu kämpfen, dass Schule, Hausaufgaben
und Prüfungsvorbereitung, die ihn nicht nur erheblich
beansprucht, sondern seinen Tagen Struktur und
ihm damit Halt geboten hatten, schlagartig wegge-
fallen waren: „Als ich Dienstag keine Schule mehr
hatte, wusste ich nicht mehr wohin mit der Zeit.
Langeweile von früh bis spät.“ Daher vollzog er –
noch immer im militärischen Jargon gefangen – einen
„Stellungswechsel“ und besuchte Verwandte in Bad
Münstereifel. Auch wenn er hier bei der Besichti-
gung der Reste des ehemaligen Führerhauptquar-
tiers „Felsennest“ in Rodert von den Jahren zwi-
schen 1933 und 1945 nochmals als „großer Vergan-
genheit“ schwärmte, „die nicht verstanden und
nur geschmäht“ werde, so deuteten sich doch erste
moderate Veränderungen seiner Grundeinstellung
an. Eine „endgültige und richtige Wertung“ der NS-
Zeit, so gestand er nun immerhin ein, könne „erst
die Zukunft bringen in Verbindung mit dem Prob-
lem des Bolschewismus“.
Zurück in Brühl nutzte Günther seine nun reichlich
zur Verfügung stehende Zeit wieder für Schwimm-
bad- und Kinobesuche, wobei er im Kino eine für
ihn neue Welt entdeckte. Als er Mitte Juni den Film
Fanny by Gaslight
gesehen hatte, schrieb er, das sei
mittlerweile der vierte englische Film, den er nach
seiner Kriegsgefangenschaft besucht habe, „und jedes
Mal ging ich befriedigt aus dem Theater“. Wenn
auch die technische Qualität bedeutend schlechter
als in deutschen Filmen sei, so brächten die briti-
schen Filmemacher doch „wirklich gute Sachen auf
die Leinwand“. Entsprechend angetan war Günther
Roos von „Inhalt und Gehalt“ dieser Werke, die für
ihn – so sein rückblickendes Fazit – „eine ganz neue
Erfahrung“ dargestellt hätten.
Die entscheidende Wende im Denken von Günther Roos be-
wirkte jedoch nicht das Kino, sondern die Entdeckung einer
Literatur, die sich von jener, die er während der NS-Zeit massen-
haft konsumiert hatte, deutlich unterschied. Über ein „Erwe-
ckungserlebnis“ in dieser Hinsicht berichtete er Ende Juni 1946:
„Ich habe jetzt ein Buch gelesen, das mir viel zu denken gege-
ben hat. Es war Remarques ‚Im Westen nichts Neues‘. Welch ein
Unterschied zum ‚Glauben an Deutschland‘ von Zöberlein! Beide
entsprechen der Wahrheit, in beiden wird der Krieg in seiner
Grausamkeit und seinem Schrecken geschildert. Aber während in
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Günther Roos
im Jahr 1946
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Erste Nachkriegsjahre: „Mein Ziel ist der Aufbau einer Existenz.“
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