leeren Gleise. Es war das letzte Mal, dass
ich meinen Bruder sah.“
Das zweite der oben erwähnten Ereig-
nisse zu Jahresbeginn betraf unvorherge-
sehene Entwicklungen im Brühler Jung-
volk, von denen Günther offenbar am
6. Januar erfuhr. Nachdem er am Nach-
mittag dieses Ferientages mit Freunden
in Köln gewesen war, um im Brauhaus
Früh „zu saufen und zu fressen“, fuhr er
zu einer Besprechung nach Bonn, wo ihm
dann offenbar mitgeteilt wurde, dass er
für die Dauer der Erkrankung des Brüh-
ler Jungstammführers Manfred Mammel
dessen Funktion übernehmen sollte.
Ende des Monats wurde diese überra-
schende Beförderung offiziell: „Ich führe
jetzt den Jungstamm I, bis Mammel wie-
der gesund ist“, notierte Günther ohne
weiteren Kommentar am 30. Januar in
seinem Tagebuch. In den drei Wochen
zuvor hatte er zwar regelmäßig seine im-
mer umfangreicher werdenden Pflichten
erfüllt, dies aufgrund von Gustavs Anwe-
senheit aber auf ein Minimum reduziert.
„War in Pingsdorf zum Fähnleindienst.
Habe ihn kurz gemacht“, hieß es dann,
oder: „Hatte heute Führerdienst ange-
setzt. Antrittsstärke miserabel. Habe kurz
gemacht und für nächsten Samstag neu
angesetzt.“ An diesem 31. Januar wollte
er seinem Bruder dann kurz vor dessen
Abreise wohl doch etwas imponieren:
„Nachmittags war von 3 bis 6 Uhr Führer-
schulung. Habe einen Marsch durch die
Stadt gemacht.“ Günther Roos als Jungs-
tammführer und damit ranghöchster
Jungvolkführer Brühls marschierte dabei
vorneweg.
Beide Ereignisse zu Jahresbeginn 1942
stehen für einen – von Günther Roos
selbst wohl damals kaum bemerkten –
Zwiespalt zwischen seiner gewohnten
familiär-behüteten Umgebung und der
sich vor ihm auftuenden ideologieüber-
frachteten und machtversprechenden Welt
der NS-Bewegung. Die mit Letzterer
verknüpften Möglichkeiten ließen den
17-Jährigen bald endgültig in den Kosmos
von Hitlerjugend, NS-Ideologie und
Großmachtfantasien eintauchen.
Schon zum Jahresende 1941 hatte
Günther Roos einen wichtigen ersten
Schritt getan, der ihn aus der vergleichs-
weise überschaubaren und intakten
Brühler Jungvolkwelt ein gutes Stück he-
rausführte. „Bin jetzt im Streifendienst“,
schrieb er am 23. November 1941 in sein
Tagebuch: „Der Streifendienstführer Hipp
erklärte uns unsere Aufgaben.“ Er sei
„natürlich sehr stolz“ gewesen, ergänzte er
sehr viel später, jetzt dem HJ-Streifen-
dienst – „einer Art HJ-Polizei“ – anzuge-
hören. Zu diesem Zeitpunkt habe er zwar
realisiert, dass der stets in Zivil auftre-
tende Streifendienstführer Hipp „sehr
großen Einfluss“ gehabt habe, ohne je-
doch dessen eigentliche Funktion er-
kannt zu haben. Die habe sich ihm erst
etwa ein halbes Jahr später erschlossen,
als er, zwischenzeitlich zu dessen engem
Mitarbeiter geworden, zu Hipps Hochzeit
eingeladen worden sei: „Die Hochzeit
fand nach nationalsozialistischem Ritus
statt und wirkte auf mich etwas lächer-
lich, als der Standesbeamte zu der Frau
die bedeutungsvollen Worte sprach: Nun
geh ein in die Sippe der Hippe!“ Hipp
selbst, so Günther Roos, sei zu dieser Ge-
legenheit erstmals „in großer Uniform“
erschienen, weshalb es ihn „wie Schup-
pen von den Augen“ gefallen sei: „Es war
eine SS-Uniform mit einem Winkel auf
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1942: „Macht will ich haben! Alle sollen mich lieben oder fürchten.“
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1942